Nein, der menschliche Selbstwert kann nicht mit einem Geldschein verglichen werden.

Immer wieder begegnet mir die Selbstwertanekdote mit dem zerknüllten, schmutzigen Geldschein als Synonym für den persönlichen Selbstwert. Ich mag diese Geschichte nicht, ich verstehe sie noch nicht einmal.

 

Gehört in Schulungsräumen, auf Weiterbildung und gesehen auf Facebook. Diese Selbstwertanalogie mit dem zerknüllten 50-Euro-Schein irritiert mich nach wie vor jedes Mal. Die Story geht in etwa so: Ein Professor hält einen 50-Euro-Schein hoch und fragt, wer ihn haben möchte. Alle Hände schießen in die Höhe. Der Professor zerknüllt den Geldschein, fragt erneut. Wieder alle Hände hoch. Selbst als er auf ihm rumtrampelt und der Schein schon ramponiert und schmutzig ist, wollen ihn die Studenten noch immer haben. Soll heißen: „Der Wert des Geldscheins der verquetscht, zertrampelt und beschmutzt wurde, ist also nicht weniger geworden und so verhält es sich auch mit dem Selbstwert.“

 

Und jedes Mal erntet dieser unlogische, verblödete Vergleich von Geldschein und Selbstwert jede Menge zustimmendes Kopfnicken und erkenntnisverheißende Blicke. Ich habe diese Geschichte nie verstanden und je mehr ich darüber nachdenke umso blöder und verlogener wird sie aus einer Unendlichkeit an Gründen. Hier die offensichtlichsten:

 

Erstens: Hallo, geht’s noch? So etwas Wertvolles und Persönliches, beinahe schon Intimes wie den Selbstwert eines Menschen mit so etwas Banalem, Kaltem und Seelenlosem wie einem Geldschein zu vergleichen entbehrt jeder logischen und moralisch vertretbaren Grundlage.


Zweitens: Kurz zur Geldgeschichte, die bereits verlogen ist. Die Annahme, dass der dreckige Knitterschein nicht an Wert verliert stimmt nur auf materieller Ebene nicht auf emotionaler. Selbstverständlich, ist er noch 50 Euro wert, würde der Professor aber daneben einen „frischen“, glatten und sauberen 50er hochhalten und die Studenten wählen lassen, welcher Geldschein wäre dann wohl begehrter? Der der im Dreck gelegen hat und grad noch Straßenschuhe drauf rumstampften?


Drittens: Der Geldschein bestimmt seinen Wert nicht selbst, die Außenwelt hat bestimmt, wieviel 50 Euro wert sind und was man dafür bekommt. Wäre doch traurig, wenn das mit dem Selbstwert ebenso wäre. Das würde bedeuten, dass das Umfeld den eigenen Selbstwert bestimmt und der Mensch dem machtlos ausgesetzt ist. Den eigenen Selbstwert erkennen und steigern – das kann man lernen. Auch ohne auf die Gunst des Umfelds angewiesen zu sein!


Und viertens: Da dieser Papierschein kein Lebewesen ist sondern eine Sache, ist es dem Schein wahrscheinlich ziemlich schnuppe, wie er behandelt wird und selbst wenn er etwas dagegen hätte, er könnte sich nicht wehren. Und der Mensch soll genauso wehrlos sein und muss sich alles gefallen lassen? Komische Annahme! Und eine gefährliche noch dazu. Kein Mensch, der schlecht behandelt wird, soll in der Annahme gefangen sein, sich nicht wehren zu können. Ein Mensch kann, darf und soll auf sich schauen und achtgeben anstatt auf sich rumtrampeln lassen.

An alle Kurs- und Gruppenleiter welcher Gruppen auch immer: Bitte macht diese Demonstration nicht. Es ist erniedrigend und grausam, diesen Geldschein als Stellvertreter für echte Menschen, die mitunter bereits schlimme Erfahrungen gemacht haben herzunehmen, auf den Boden zu werfen, und darauf rumzutrampeln.

 

Der persönliche Selbstwert ist da und wirkt viel stärker von Innen nach Außen als von Außen nach Innen. Wie geht's dir mit deinem Selbstwert?

 

 

 

Ylichst, dein Mentalcoach Nadine

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Kommentare: 3
  • #1

    Claus (Dienstag, 11 August 2020 13:05)

    Hallo, Ich finde es sehr gut, dass du dich genauer mit dieser Idee beschäftigst und deine Meinung dazu sagst. Und na klar, ein Geldschein, egal, wie groß oder schöm kann man niemals mit einem Menschen vergleichen. Nur, ist es eben nicht außergewöhnlich, wenn wir einem banalen, seelenlosen, kalten Gegenstand seinen Wert anerkennen und zwar, egal, wie zerknittert oder zerrissen er ist? Und unter uns Menschen existiert oft der Gedanke, dass ein Mensch, meist man selber, keinen großen Wert, keinen großen Nutzen hat. Z.B. weil man eben noch nicht das große Ding gedreht hat, noch kein Business aufgebaut hat, weil man versagt hat, weil man sich nicht durchsetzen konnte etc. So etwas banales, eigentlich ziemlich wertloses Stück farbiges Papier, welches vielleicht einen Material- und Herstellungswert von einigen Cents hat, diesem bestätigen wir als Menschengemeinschaft einen ideellen Wert. Wir haben uns sozusagen geeinigt, dass dieser Geldschein diesen Wert hat. Ohne groß zu hinterfragen. Oder? Wenn wir uns nun Menschen anschauen oder uns im Spiegel anschauen, welchen Wert sehen wir dann? Erkennen wir das Potenzial, sehen wir die Möglichkeiten, Fähigkeiten, Ideen, Visionen dieses Menschen? Geben wir jedem Menschen seinen Wert zurück? Konzentrieren wir uns doch auf das, was wir nicht gleich sehen und erkennen können, jedenfalls nicht mit den Augen. "Der Mensch sieht nur mit dem Herzen gut" . Lasst uns doch hinein schauen in das große
    Potenzial jedes Einzelnen. Und, ja, so ein ziemlich doofer Vergleich mit einem Geldschein kann uns dass sehr schön zeigen, welchen falschen Idealen und Mustern wir vertrauen. Geld ist schön, Geld ist wertvoll, Geld ist ein Ausdruck, ein Energieausgleich für Waren, Dienstleistungen etc. Wir Menschen sind aber eben nicht der Wert, den wir uns aufdrucken (lassen), unser Wert liegt vor allem in den Ideen, im Potenzial, auch in der Kommunikation, in der Zusammenarbeit. Dieser WErt läßt sich auch sehen, nur nicht so flüchtig. Ach ja und dass der Mensch, der zerknittert wird, sich nicht wehren soll und darf, hat mit dem Geldschein nichts zu tun. Das ist nur deine Interpretation von dem gezeigten. Wie gesagt, es geht hauptsächlich darum, dass jeder Mensch, egal, was er bisher erlebt hat und auch wenn er sich eben bisher noch nicht wertschätzen konnte, sich noch nicht verteidigen konnte, sich als Opfer gesehen hat....... er behält seinen Wert und das darf er sich bewußt machen.

  • #2

    C. Dürkhauser (Freitag, 11 Februar 2022 10:10)

    Diese Übung in leicht abgewandelter Form ist im Zweier- oder Kleingruppensetting in der Traumatherapie eine anerkannte und sehr hilfreiche Methode für schwer depressive, selbstwertgestörte, in ihrer Psyche tief verletzte Menschen. Ich wende sie selbst immer wieder für meine Patienten an.

    Nur, weil irgendein Lehrender oder Coach meint, sie als "Larifari" im Hörsaal anbieten zu müssen, ist sie nicht weniger gut!

  • #3

    Bernd (Sonntag, 22 Mai 2022 14:01)

    Diese Geschichte soll nur den bedingungslosen Wert veranschaulichen, nicht mehr. Es ist nicht dazu gedacht eine 1zu1 Übertragung auf den Menschlichen Selbstwert zu sein.
    Das andere wohlmöglich lieber den "intakten" Schein bevorzugen würden, zeigt ehrlichgesagt nur wie passend dieser Vergleich ist! Schließlich wird so veranschaulicht, dass der wirkliche Wert NICHT von der Meinung anderer abhängt, und dass es vielen anderen ziemlich egal wäre welchen Schein sie bekämen.
    Richtig angewendet und weitergeführt ist diese Geschichte eine der anschaulichsten Möglichkeiten das schwer greifbare Konzept des Selsbtwertes zu vermitteln; natürlich wenn das notwendige therapeutische Wissen dazu besteht.